22.09.2020 | LOGFILE Leitartikel 36/2020

Unzureichender Umgang mit Abweichungen – Ursache: der menschliche Fehler

5 Min. Lesezeit | von Lea Joos und Dr. Doris Borchert (redaktionelle Bearbeitung)

 

Der Mangelpunkt                                                        

Bei der eingesehenen Abweichung wurde festgestellt, dass die Chargennummer, die vor Beginn der Herstellung händisch auf das Produkt übertragen werden musste, nicht korrekt auf das Produkt übertragen wurde.

Als Ursache wurde im Zuge der Ursachenanalyse ein „menschlicher Fehler“ bei der manuellen Übertragung der Chargennummer festgestellt. Eine Bewertung möglicher technischer oder organisatorischer Ursachen für den „menschlichen Fehler“ fehlte. Die Bewertung fehlte auch bei der insgesamt dritten Abweichung dieser Art in den letzten drei Monaten. (Ref.: EU-GMP-Leitfaden Teil I Nr. 1.4 xiv)


Das war das Problem

Die fehlerhafte Übertragung der Chargennummer vor Beginn der Herstellung wurde ohne eine detailliertere Ursachenanalyse dem Faktor Mensch zugeschrieben. Aufgrund der manuellen Übertragung lag die Ursache „menschlicher Fehler“ nahe: ein Mitarbeiter hatte die Chargennummer offensichtlich falsch übertragen.

Gemäß EU-GMP-Leitfaden Teil I Nr. 1.4 xiv soll jedoch mit dem sogenannten „menschlichen Fehler“ sehr vorsichtig umgegangen werden und dieser nur dann als Ursache festgehalten werden, wenn andere technische, prozess- oder systembedingte oder organisatorische Ursachen ausgeschlossen werden konnten.

Inwiefern dem Übertragungsfehler andere Ursachen technischer oder organisatorischer Art zugrunde lagen, wurde im vorliegenden Fall von der Firma nicht überprüft. Die „Richtigkeit“ der angenommenen Ursache wurde auch nach der insgesamt dritten Abweichung dieser Art innerhalb der letzten drei Monate nicht überprüft. Für jede einzelne dieser Abweichungen war als Ursache der menschliche Fehler festgestellt worden. Als Präventivmaßnahme wurde der betroffene Mitarbeiter jeweils nachgeschult.

Spätestens ein Wiederauftreten einer Abweichung sollte jedoch dazu führen, eine zunächst festgestellte Ursache zu hinterfragen. Wenn ein Mitarbeiter immer wieder den gleichen Fehler macht oder mehrere Mitarbeiter den gleichen Fehler machen, liegen die Ursachen möglicherweise tatsächlich im Prozess oder im Prozessablauf.


Das ist der häufigste Fallstrick

Zur praktischen Durchführung der Ursachenanalyse werden in den Verfahrensanweisungen der Firmen häufig nicht sehr viele Vorgaben gemacht – außer, dass die „wahrscheinlichste“ Ursache zu identifizieren ist. Subjektiv kann die wahrscheinlichste Ursache manchmal sehr schnell gefunden werden – häufig ist es der „menschliche Fehler“. Solche „Schnellschüsse“ sind jedoch zunächst nur subjektive Annahmen – auch wenn sie meist nicht von einer Person allein stammen. Sie müssen weiter in Frage gestellt, überprüft und verifiziert werden.


So vermeiden Sie diesen Fehler

Es gibt verschiedene Methoden, die zur Analyse der Ursache einer Abweichung angewendet werden können. Nicht immer benötigt man aufwendige Diagramme, um im Rahmen einer Ursachenanalyse in die notwendige Tiefe vorzudringen.

Stellen Sie sich bei der Ursachenanalyse vor, Sie hätten ein wissbegieriges Kind neben sich, das Sie immer wieder mit der Frage „Warum?“ nervt:

  • Kind: „Warum hat der Mitarbeiter die Chargennummer falsch übertragen?“
     
  • Sie: „Weil der Mitarbeiter die Chargennummer auf dem Vorgabedokument schlecht erkennen konnte.“
     
  • Kind: „Warum konnte der Mitarbeiter die Chargennummer auf dem Vorgabedokument schlecht erkennen?“
     
  • Sie: „Weil das Vorgabedokument zum Zeitpunkt der Übertragung nur auf dem Beistelltisch liegen kann und damit relativ weit vom Mitarbeiter entfernt ist.“
     
  • Kind: „Warum liegt das Dokument so weit weg?“
     
  • Sie: „Weil die Vorgabedokumente aus Hygienegründen nicht auf dem Arbeitstisch abgelegt werden können.“

Mit dieser „kinderleichten“ Fragemethode kommen Sie relativ einfach näher an die eigentliche Ursache heran, wie in Abbildung 1 bildlich dargestellt wird:

Abbildung 1 „Kinderleichte“ Ursachenanalyse mittels Warum-Fragen. Jeder Verbindungsstrich steht für eine Warum-Frage.

Nach dem fünften „Warum?“ sind Sie vielleicht vom kindlichen Gegenüber sehr genervt, aber der Identifizierung der wahrscheinlichsten Ursache sehr viel nähergekommen: Sie haben vielleicht festgestellt, dass die Abweichung durch einen ungünstigen Arbeitsablauf verursacht worden sein könnte. Aber auch das ist noch eine Vermutung, die je nach Art und Schwere der Abweichung durch eine Überprüfung verifiziert werden muss. In diesem Fall sind die Möglichkeiten einer solchen Überprüfung beschränkt, da nur die Mitarbeiter befragt oder die Wirksamkeit bisheriger Korrektur- und Präventivmaßnahmen überprüft werden können.


Für die Bearbeitung von Abweichungen ist es wichtig, dass beide Teile der Ursachenanalyse enthalten sind:

- detaillierte Ursachenermittlung und
- Prüfung der Hypothese zur vermuteten Ursache.


Nur wenn Sie die wahrscheinlichste Ursache für die Abweichung gefunden haben, können Sie wirksame Maßnahmen ergreifen. Am Beispiel der Übertragung der falschen Chargennummer heißt das: nur wenn Sie herausfinden, dass die falsche Übertragung der Chargennummer dadurch verursacht wird, dass das Vorgabedokument zu weit vom übertragenden Mitarbeiter entfernt liegt, können Sie den Arbeitsablauf umorganisieren und das Vorgabedokument an einer anderen, besser einsehbaren Stelle anbringen, um es den Mitarbeitern zu erleichtern, die Chargennummer manuell zu übertragen.

Wenn Sie als wahrscheinlichste Ursache pauschal den „menschlichen Fehler“ vermuten und daraus die Nachschulung des Mitarbeiters ableiten, wird er oder ein anderer Mitarbeiter den Fehler wieder machen. Genauso verhält es sich, wenn Sie eine falsche Ursache identifizieren: wenn Sie bei der Ursachenanalyse zu dem Schluss kämen, dass die Sehkraft der Mitarbeiter beeinträchtigt ist und den Mitarbeitern einen Besuch des Augenarztes nahelegen, wird der Fehler vermutlich wieder auftreten, so lange das Vorgabedokument zu weit entfernt liegt und zu schlecht einsehbar ist.


FAZIT: Um das Wiederauftreten einer Abweichung entsprechend EU-GMP-Leitfaden Teil I Nr. 1.4 zu vermeiden, ist es notwendig, die richtige Ursache zu identifizieren und mit den richtigen Maßnahmen die Ursache zu beseitigen.


Dieser Text ist ein gekürzter und bearbeiteter Auszug aus dem neuen Kapitel 21.E des GMP-BERATERs GMP-Inspektionen: häufige Mängel bei GMP-Inspektionen, deren wiederkehrende Fallstricke und wie man sie vermeidet.

 
Lea Joos

Autorin

Lea Joos
Apothekerin
E-Mail: lea.joos@gmx.de

Doris Borchert

Autorin

Dr. Doris Borchert
Senior-GMP-Expertin und Chefredakteurin bei GMP-Verlag Peither AG
E-Mail: doris.borchert@gmp-verlag.de

 
GMP-BERATER

GMP-BERATER



Sie sind in Ihrem Arbeitsumfeld auf aktuelle GMP-Informationen angewiesen?

Gehen Sie kein Risiko ein.

Der GMP-BERATER vereint laufende Aktualisierungen globaler Regelwerke mit Empfehlungen unserer Fachleute aus der Praxis. Damit steht Ihnen bei der Umsetzung der Good Manufacturing Practice das weltweit größte GMP-Wissensportal zur Seite.


> Mehr Informationen und Bestellung
 
 

Kommentare


Schreiben Sie einen Kommentar zu diesem Leitartikel.

> Zögern Sie nicht, wir freuen uns auf Ihr Feedback!